Es ist noch nicht lange her, da wurden Mädchen und Frauen von der Diagnose ADHS weitgehend ausgeklammert. Als POS (Psycho-organisches Syndrom) war es vorwiegend bei Jungs im Kindesalter bekannt. Man ging zudem davon aus, dass sich ADHS auswächst und es bei Erwachsene nicht mehr vorkommt.
Heute wissen wir, dass über 60% der Betroffenen auch im Erwachsenenalter noch die Auswirkungen der ADHS kennen. Die Symptome verändern sich über die Jahre zwar, sie verschwinden jedoch nicht unbedingt.
ADHS wird bei Jungen zwei- bis dreimal so oft diagnostiziert wie bei Mädchen. Ob die „Störung“ bei ihnen allerdings tatsächlich häufiger vorkommt, ist fraglich. Fest steht, dass betroffene Mädchen in der Regel später ihre Diagnose erhalten und deutlich seltener an entsprechende Fachärzt*innen überwiesen werden.
Der Grund dafür liegt mit grosser Wahrscheinlichkeit in der unterschiedlichen Ausprägung der Symptome:
Störende Verhaltensauffälligkeiten werden vor allem bei einer Hyperaktivität und Impulsivität sichtbar. Diese sind bei Mädchen weniger vorhanden oder werden unterdrückt. Folglich kommt es seltener zu Abklärungen und Diagnosen.
Die Diagnosekriterien von ADHS basieren auf Studien mit männlichen Teilnehmern.
Als eigenständige Gruppe sind Mädchen mit AD(H)S erst ab den 2000er Jahren eingehender untersucht worden. Bislang berücksichtigen die Diagnosekriterien nicht die Unterschiede. Damit wird man den Symptomen der Mädchen nicht gerecht, und es werden weiterhin weniger Diagnosen gestellt.
Bei Erwachsenen halten sich die Neudiagnosen von Frauen inzwischen etwa die Waage mit den Männern. Nach einem meist langen Leidensweg kommt es auf Umwegen und aufgrund von Begleiterscheinungen doch noch zu einer Diagnose. Für viele Frauen ist es eine Erleichterung, endlich zu verstehen, was mit ihnen los ist.
Es gibt drei verschiedene „Typen“ von ADHS:
und den
Frauen haben am häufigsten den unaufmerksamen oder gemischten Typus.
Diese Anzeichen gehören unterschiedlich ausgeprägt dazu:
Konzentrationsschwäche, Verträumtheit, Ablenkbarkeit
Gedankensprünge, Abschweifen und Themenwechsel in Gesprächen
Impulsivität: Impulskäufe, schnelle Zusagen, Wutausbrüche
Desorganisation: Prioritäten setzen, Planungen, aufräumen und Ordnung halten fallen schwer. Betroffene wirken chaotisch.
Beziehungsthemen: Freundschaften aufrecht erhalten, weil regelmässige Kontaktaufnahme untergeht, Ein Wechsel von Freundschaften ist ebenso typisch wie ein wechselhaftes Sexualverhalten.
Ausgeprägter Hang zum Aufschieben
Reizoffenheit, Reizüberflutung
schlechtes Zeitgefühl, zu spät kommen, Termine vergessen
schnelle Entmutigung
viele Ideen, die nicht umgesetzt werden
Die Symptome richten sich bei Mädchen und Frauen eher nach innen, sind also internalisiert. Unaufmerksamkeit, Ängste und ein tiefer Selbstwert gehören dazu.
Jungs und Männer zeigen vermehrt externalisierte Symptome wie Zappeln, Regeln brechen oder Aggressionen.
Motorische Hyperaktivität ist nach aussen gut zu sehen. Frauen und Mädchen berichten jedoch von einer vorwiegend inneren Unruhe mit Rastlosigkeit, Gedankenkarussell, Schlafstörungen. Auch Gefühlsschwankungen, gepaart mit Impulsivität, werden häufig beschrieben. Diese lassen sich, wenn auch mit grossem Aufwand, nach aussen verbergen.
ADHS liegen die gleichen Ursachen zugrunde, egal welchem Geschlecht ein Mensch angehört. Die selben Hirnregionen und die selben Neurotransmitter sind betroffen. Die selben Haupt-Defizite sind vorhanden. Aber die daraus resultierenden Symptome - das, was wir von aussen sehen – sind verschieden durch biologische Unterschiede und die sozialen Umstände, wie sie die unterschiedlichen Geschlechter erleben.
Bei Frauen wird eine Stärke im Organisieren, Planen und anderen Exekutivfunktionen vorausgesetzt. Unsere Gesellschaft ist weniger grosszügig, wenn eine Frau in diesen Gebieten Schwächen zeigt. Also strengen sich bereits Mädchen enorm an, um diesbezüglich nicht aufzufallen.
Bei ADHS gehören exekutive Funktionen wie planen, organisieren, vorausschauen, Prioritäten setzen nicht zu den grossen Stärken. Das zu verstecken braucht viel Energie.
Impulsivität und Aggression zählt in unserer Kultur zu den männlichen Attributen. Frauen tendieren dazu, auch das zu unterdrücken. Die Kompensation verlangt von den Mädchen und Frauen extrem viel ab. Es kommt zu Erschöpfung, manchmal sogar Depressionen.
Solche Begleiterscheinungen wie Depressionen oder Essstörungen fallen bei Mädchen und jungen Frauen oft vor der ADHS auf. Ungesunde Coping Skills haben sich dann bereits etabliert, und der Selbstwert ist schon entscheidend getrübt.
Seit vielen Jahren coache und begleite ich Frauen mit vermutetem oder diagnostiziertem ADHS. Nebst den beschriebenen Symptomen fallen mir vor allem drei Dinge auf:
Ich kann das nicht, das geht sowieso nicht, ich bin zu blöd/untalentiert/ungeschickt dafür...
Solche Aussagen höre ich so oft von betroffenen Frauen. Sie trauen sich wenig zu, nehmen Misserfolge schon vorweg. Was ihnen gelingt, schieben sie auf den Zufall. Sie übersehen ihre eigenen Stärken und kennen dafür ihre Defizite in und auswendig.
Wenn ich in meinen Frauen-Coachinggruppen die persönlichen Stärken thematisiere, löst das zuerst grosses Unwohlsein aus. „Das zählt doch nicht...“ - „Wie kann ich auf mich stolz sein, wenn ich so vieles schlecht mache“... Zu ausgeprägt ist der Fokus auf die Schwächen und die eigene Scham darüber. Ein wichtiges Ziel von mir ist, die Sicht auf die eigenen Ressourcen zu ermöglichen und zu trainieren. Die Frauengruppe ist ein guter, wertschätzender Ort dafür.
Daraus folgt, dass Nein sagen ein ungeliebtes Thema ist. Es fällt unglaublich schwer. Die eigene Hilfsbereitschaft und die Angst vor Ablehnung sind zu gross. Viele Frauen mit ADHS helfen, wo sie nur können. Sie sagen Anfragen zu, ohne abzuwägen, ob sie dafür wirklich Zeit und Energie haben. Sie stellen die Bedürfnisse der anderen über ihre eigenen. Ihre eigenen Grenzen nehmen sie unzureichend wahr, bevor sie sie eindeutig überschritten haben. Auch andere Menschen übertreten ihre Grenzen, und Frauen mit ADHS lassen dies zu oft geschehen.
Frauen mit ADHS leben ein geheimes Leben. Sie haben Geheimnisse, die sie niemandem anvertrauen, weil sie sich dafür genieren. Sie schämen sich unheimlich für die Unordnung in ihrer Wohnung. Es ist ihnen peinlich, dass sie überfordert sind mit der Flut von Schulbriefen der Kinder. Sie schämen sich, weil sie Routinen kaum aufrecht halten und wenn sie etwas vergessen.
Sie vergleichen sich permanent und fühlen sich schlecht dabei. Davon erzählen sie niemandem. Eher greifen sie zu einer weiteren Notlüge, laden keinen Besuch ein, machen einen Witz oder blöden Spruch darüber. Sie haben ständig Angst aufzufliegen. Diese Scham erzeugt immensen Stress. Und jegliche Form von Stress beeinflusst die ADHS-Symptome.
Ich liebe meine Arbeit als ADHS- Coach. Einer der Hauptgründe ist, dass ich täglich echt authentischen Menschen gegenüber sitze, welche einen ebensolchen Coach suchen.
Die Frauen mit ADHS, welche zu mir ins Coaching kommen, sind ehrlich und direkt, sobald sie Vertrauen zu mir gefasst haben. Da gibt es kein Verstellen und keine Masken. Es fordert mich heraus, selber 100% wahrhaftig zu sein.
Viele Frauen haben eine bildhafte und ganz präzise Sprache. Sie entwickeln und verknüpfen Gedanken in Windeseile. Und sie haben starke Gefühle, die sie manchmal kaum auszudrücken vermögen. Manchmal haben sie Angst, sich zuzumuten, denn nicht alle Menschen können mit Authentizität umgehen. Deshalb nehmen sie sich zurück oder entschuldigen sich. Ich sehe diese Echtheit als grosse Stärke und gebe ihr gerne Raum.
Die Symptome von ADHS bei Frauen verlaufen besonders wellenartig, weil sie mit den Hormonen zusammenhängen. Die Woche vor Beginn der Menstruation wird von vielen betroffenen Frauen als besonders herausfordernd bezeichnet. PMS (prämenstruelles Syndrom) tritt oft stärker auf als bei neurotypischen Frauen. Sie fühlen sich verwirrt, neben den Schuhen. Vermehrt wird zu einer Art Selbstmedikation wie übermässig Drogen, Alkohol, Sex, Essen gegriffen. Es gibt starke Anzeichen, dass Stimulanzien (ADHS-Medikation) weniger effektiv wirken in dieser Zeit.
Da sich die Hormone im Laufe eines Frauenlebens mehrfach verändern, verändert sich auch die Ausprägung der ADHS-Symptome im Laufe der Jahre. In der Pubertät, Schwangerschaft und rund um die Menopause wird das besonders spürbar. Ich finde diesen Aspekt so spannend, dass ich bald einen weiteren Blog-Artikel darüber veröffentlichen werde. Abonniere meinen Newsletter, damit du ihn nicht verpasst!
Doch auch Veränderungen in der Lebenssituation haben einen starken Einfluss. Der Beginn einer Ausbildung, ein Jobwechsel, eine Beziehung, Umzug, Familiengründung etc. versetzen das sensible System in grosse Unruhe.
Unruhe macht Stress, und Stress verstärkt Unaufmerksamkeit, Vergesslichkeit bis zu Ängsten und Panikattacken. Je vertiefter du dich und "dein" ADHS kennst, umso besser kannst du mit diesen herausfordernden Situationen umgehen, bevor sie dich überwältigen.
Als ADHS- und Life Coach begleite ich dich gerne auf deinem Weg. Ich coache in Basel und online.
In meinem Online-Kurs "ADHS bei Frauen" erfährst du noch mehr. In einer knappen Stunde lernst Neues über
Merkmale und Symptome von ADHS bei Frauen
Ursachen und Einflüsse des ADHS
Herausforderungen im ADHS-Frauenleben und ihre Gründe
Zyklusbedingte Schwankungen
und kennst einige praktische Tipps und Tricks im Umgang mit einigen typischen Herausforderungen.
Dieses Webinar eignet sich auch für Nicht-Betroffene. Es hilft dir Frauen mit ADHS besser zu verstehen. DANKE für dein Interesse!
2 Comments
Liebe Jana,
wie spannend! Danke, dass Du die Zusammenhänge zwischen ADHS und dem weiblichen Körper so gut erklärt hast.
Beste Grüße
Sabine
Liebe Jana,
Vieles wusste ich gar nicht (Unterschied von männlicher und weiblicher Diagnose z.B) und es ist spannend, mehr über dein Wirkfeld zu erfahren.
So kann ich in Zukunft noch besser eine Empfehlung für dich aussprechen, wenn mir der Impuls dazu kommt.
Danke für dein Wissen, dein Wirken, dein Schreiben darüber. Danke für dich, liebe Jana.
Herzensgruss Marcelle