Frauen mit einer frischen ADHS-Diagnose melden sich in meiner Animo Coaching-Praxis auffallend häufig in zwei Lebensphasen: In der Pubertät sowie zwischen 40 und 50 Jahren. Es sind dies die Anfangs- und Endjahre unserer Fruchtbarkeit, die Zeiten der grössten hormonellen Veränderungen.
Dass eine Frau während dieser Umstellung durchgeschüttelt wird und sich eine Begleitung sucht, macht Sinn. Doch weshalb die Häufung der ADHS-Diagnosen? Was haben ADHS und Hormone miteinander zu tun?
Während vielen Schuljahren kompensieren und verstecken zahlreiche Mädchen ihre grössten Herausforderungen. Über die übersehenen Anzeichen von ADHS bei Mädchen und Frauen berichte ich in einem weiteren Blog-Artikel.
Oft fällt ein ADHS bei Mädchen erst im Teenage-Alter auf, zum Beispiel durch
mehr akademische Probleme
heftige Aggressionen (auch sich selber gegenüber; negative innere Dialoge)
eine höhere Rate von Depressionen
frühe Anzeichen in Bezug auf Substanzen
Schwierigkeiten mit der Motivation
ausgeprägtes PMS (prämenstruelles Syndrom- starke Stimmungsschwankungen usw. vor der Periode)
Die Veränderung der Hormone, bevor die Menstruation einsetzt, verstärkt die ADHS- Symptomatik. Vertuschen und die Kompensation durch Fleiss, Intellekt und Selbstkontrolle werden immer anstrengender bis unmöglich.
Auch zu „Selbstmedikation“ durch Cannabis, Alkohol oder Nikotin wird gegriffen, um die innere Unruhe zu lindern, und die Flucht in Social Media oder Games ist beliebt.
Wenn Eltern oder Lehrpersonen etwas auffällt, wird es oft auf die Pubertät geschoben und nicht ernst genommen. Die Mädchen erhalten nicht die richtige Unterstützung, und die Herausforderungen werden grösser. Es ist typisch, dass erst die Begleiterscheinungen wahrgenommen werden (eine Essstörung, Sucht oder Erschöpfung beispielsweise), bevor eine junge Frau endlich auf ein Aufmerksamkeitsdefizit Hyper-/Hypo-Aktivitäts- Syndrom abgeklärt wird.
Auch in der Menopause treten ADHS-Symptome bei betroffenen Frauen verstärkt auf, wie
Traurigkeit bis Depression.
unendliche Müdigkeit.
krasse Zerstreutheit.
grosse Vergesslichkeit.
Das gehört bei vielen neurotypischen Frauen ebenfalls zu der Menopause. ADHS und Wechseljahre bedeuten jedoch für die Betroffenen deutlich verstärkte Probleme. Es ist eine herausfordernde Zeit, bevor eine neue Freiheit beginnt. Die hormonelle Veränderung beginnt übrigens bereits einige Jahre vor dem Ausbleiben der Menstruation, und damit auch gewisse Auswirkungen davon.
Ich höre von Klientinnen in dieser Lebensphase: „Ich erkenne mich nicht wieder. Alle Energie ist weg, und ich muss mir alles, aber wirklich alles aufschreiben, um es nicht zu vergessen. Was ist bloss mit mir los?“, und: „In mir ist nur noch Chaos. Meine Emotionen spielen komplett verrückt. Kürzlich fragte mich eine Nachbarin auf der Strasse, wie es mir geht. Ich brach gleich heulend zusammen, ohne zu wissen warum.“
Ich sehe viele Selbstzweifel, Unsicherheiten und Ängste. Gleichzeitig schlummert da der Wunsch nach Veränderung, sich freimachen von Konventionen und Selbstverwirklichung. Die Diagnose bringt vielen Frauen Klarheit und Sicherheit. Der Austausch mit anderen Betroffenen stärkt sie und macht Mut.
Zwischen ADHS und Östrogen besteht eine enge Verbindung. Wie genau und warum das so ist, konnte noch nicht abschliessend geklärt werden.
Östrogen beeinflusst die Neurotransmitter Dopamin, Serotonin und Noradrenalin. Und diese beeinflussen Erinnerungsvermögen, Fokus und Stimmung. Daraus ergibt sich offenbar eine enge Verbindung zwischen Östrogen und kognitiven Funktionen und damit mit ADHS.
Sowohl in der Pubertät als auch in den Wechseljahren verändert sich der Östrogenspiegel bei Frauen enorm. Wenn wir von diesem beschriebenen Zusammenhang ausgehen, ergibt sich nur schon aufgrund der Hormone eine stimmige Erklärung für den Anstieg der ADHS- Symptome in diesen Lebensphasen. Diese sind zudem geprägt von Veränderung und Umbrüchen, was Stress auslösen kann und somit wiederum die Anzeichen von ADHS bei Frauen verstärkt.
Während unseren fruchtbaren Jahren steigt und fällt das Östrogen im Monatszyklus. Auch hier sehen wir eine Veränderung in manchen ADHS- Anzeichen:
In den ersten beiden Zykluswochen (Start: 1.Tag der Blutung) steigt das Östrogen. Es setzt die „feel-good“ Neurotransmitter Serotonin und Dopamin frei. Also hebt sich die Stimmung. Studien zeigen eine Tendenz, dass Woche 1 und 2 einfacher sind für Frauen mit ADHS (ab Einsetzen der Regelblutung, wo neuer Follikel heranreift, bis Eisprung).
Nach dem Eisprung (also in der 3.Woche) fällt das Östrogen und Progesteron steigt. Progesteron reduziert den positiven Einfluss des Östrogens auf das Hirn.
Diese Zeit vor der Menstruation, insbesondere die 4. Zyklus-Woche, wird von vielen Frauen mit ADHS als besonders herausfordernd bezeichnet. PMS tritt oft heftig auf. Sie fühlen sich verwirrt, neben den Schuhen. Vermehrt wird zur sogenannten Selbstmedikation in Form von übermässigen Drogen, Alkohol, Sex und Essen gegriffen.
Vieles deutet darauf hin, dass Stimulanzien (manche ADHS-Medikamente) weniger effektiv wirken in dieser Zeit. Es gibt Ärzte, welche für diese Tage die Dosis der Medikation erhöhen.
Interessanterweise wurde umgekehrt schon über Verbesserung der PMS-Symptome durch ADHS-Behandlung berichtet, wie sich auch gezieltes Einsetzen der Pille allenfalls positiv auf die ADHS-Symptome auswirken kann. Noch braucht es vertieftere Studien in diesem Bereich.
Während einer Schwangerschaft können sich die ADHS-Symptome ebenfalls verändern. Exakte Studien fehlen noch, doch Erfahrungsberichte von Fachleuten sind sich ziemlich einig: Im 1.Trimester verstärken sich die Herausforderungen wie Vergesslichkeit und Zerstreutheit stark.
Im Laufe der Schwangerschaft erhöht sich der Östrogenspiegel. Möglicherweise nehmen deshalb bei vielen Frauen mit ADHS die Symptome ab oder verschwinden sogar. Genaue Studien dazu gibt es wohl noch keine.
Viele Frauen berichten, sie seien während der Schwangerschaft vorwiegend symptomfrei. Nach der Geburt wird häufiger als bei neurotypischen Frauen von grossen Stimmungsschwankungen und postpartaler Depression berichtet. Auch die Still-Zeit wird oft als besonders belastend empfunden. Für eine unruhige Frau mit ADHS muss es herausfordernd sein, mehrmals täglich mit einem säugenden Baby stillzusitzen. Allerdings erzählten mir schon mehrere Frauen, sie hätten die Baby-Zeit sehr genossen, weil so klar war, was an der Reihe war und sie keine weiteren Ablenkungen gehabt hätten.
Betroffene Frauen und Fachleute berichten von einem offensichtlichen Zusammenhang der ADHS-Auswirkungen und dem Monatszyklus. Die Frauen, welche zu mir ins ADHS-Coaching kommen, berichten zudem praktisch einstimmig über die Veränderung der Anzeichen im Verlauf ihres Lebens.
Abschliessende Studien über die Zusammenhänge ADHS und Hormonen bei Frauen gibt es derzeit noch keine. Wie überall in der Medizin haben sich die Forscher lange Zeit vor allem auf männliche Probanden und Symptome abgestützt.
Es ist mehr als höchste Zeit, dass Mädchen und Frauen mit ADHS mehr ins Zentrum der ADHS- Forschung rücken. Symptome, das Zusammenspiel mit den Hormonen und die daraus folgenden Behandlungsansätze in Medizin, Psychologie und Coaching bieten noch Luft nach oben. Ich bin zuversichtlich, dass in den nächsten Jahren weitere interessante Zusammenhänge entdeckt werden, welche noch mehr Licht in die Behandlung und Unterstützung der Frauen mit ADHS bringen werden.
Was sind deine Erfahrungen bezüglich ADHS und Hormone? Schreibe gerne einen Kommentar zu diesem Beitrag.