Wie soll ich mich entscheiden?
27. Mai 2021Werte – was wirklich zählt im Leben
2. März 2023Als Billie zum ersten Mal zu mir ins Coaching kommt, sitzt eine gepflegte Frau um die vierzig mit wenig Körperspannung und einem verhaltenen Lächeln vor mir. Sie hatte ein Coaching-Paket bei mir gebucht mit den Worten: „Ich bin seit Jahren nicht mehr richtig glücklich gewesen, dabei ist doch eigentlich alles gut in meinem Leben. Ich habe einen lieben Mann, zwei relativ unkomplizierte Kinder und einen praktischen Teilzeit-Job. Ich sollte eigentlich dankbar sein, ich weiss. Ich fühle mich echt schlecht, dass ich das Leben nicht mehr geniessen kann und möchte mit dir anschauen, was dahinter steckt.“
Billie ist mit ihrem Anliegen nicht allein. „Eigentlich ist doch alles ok, aber...“, „Eigentlich habe ich doch nichts zu klagen, aber...“, „Eigentlich sollte es mir doch gut gehen!“ sind Sätze, die ich nicht nur aus dem Coaching, sondern auch aus meiner eigenen Erfahrung kenne.
Was steckt denn hinter diesem latenten Unbehagen, dieser farblosen Energielosigkeit? Ich nehm's vorweg: Meistens sind es unsere Bedürfnisse, die leise und beharrlich darauf bestehen, dass wir ihnen die wohlverdiente Beachtung schenken.
Was sind Bedürfnisse?
Der amerikanische Psychologe Abraham Maslow erkannte in den 50er Jahren, dass die Motivation für unser Handeln in unseren Bedürfnissen steckt. Er listete die menschlichen Bedürfnisse auf und teilte sie in verschiedene Stufen ein.
Auch wenn sein Modell heute umstritten ist, zeigt es doch auf, dass die Erfüllung unserer Bedürfnisse einer gewissen Hierarchie folgt (die allerdings auch anders sein kann als von Maslow aufgezeichnet):
Jeder Mensch hat die gleichen Grundbedürfnisse, um überleben zu können: Atmen, essen, trinken und schlafen. Sind diese erfüllt, strebt der Mensch an, sich in Sicherheit zu fühlen. Da Sicherheit von jeder Person anders empfunden wird, sieht das ganz unterschiedlich aus. Schutz und Angstfreiheit sind grundlegend wichtige Themen. Für die einen ist materielle Sicherheit, also Geld, eine wichtige Motivation, für jemand anders räumliche Sicherheit, wie ein stabiles Haus.
Auch die sozialen Bedürfnisse wollen wir abdecken. Das zeigt sich ebenfalls sehr individuell: Es gibt Menschen, die mit wenig sozialen Kontakten sehr glücklich sind und andere, die dafür beispielsweise einer Gruppe angehören wollen.
Individualbedürfnisse wie Erfolg, Wertschätzung und Unabhängigkeit sind weitere Handlungsmotive, die wir gemäss Maslow erst anstreben, wenn Grund- und Sicherheitsbedürfnisse sowie die sozialen Bedürfnisse erfüllt sind.
Zuoberst in der Bedürfnispyramide steht die Selbstverwirklichung. Das heisst, die eigenen Potenziale erkennen und ausschöpfen. Vor 70 Jahren war das Erfüllen dieses Bedürfnisses weit weniger wichtig als heute. Deshalb stufte Maslow das Erreichen der Selbstverwirklichung als sehr selten ein, was wir heute in unserer viel individualistischerer Gesellschaft bestimmt ganz anders wahrnehmen.
In der Schematherapie nennt Jeffrey Young weitere Bedürfnisse. Je nachdem, ob diese erfüllt oder unerfüllt waren in unserer Kindheit, entwickeln sich daraus im Leben Muster aus Gefühlen, Gedanken, Erinnerungen und Körperempfindungen. Er nennt folgende Gruppen von Bedürfnissen:
-Autonomie, Kompetenz, Identitätsgefühl
-Realistische Grenzen und Selbstkontrolle
-Freiheit im Ausdruck von Bedürfnissen und Emotionen
-Spontaneität und Spiel
Zusammengefasst finden wir in diesen Theorien Anregungen, unseren eigenen Bedürfnissen auf die Spur zu kommen, zu erforschen und bei Bedarf einzuordnen.
Ich weiss nicht, was ich brauche!
Zurück zu Billie. Sie hat über die Jahre den Zugang zu ihren Bedürfnissen verloren. Damit ist sie nicht allein, und vielleicht kommt das auch dir sehr bekannt vor. Mir jedenfalls ging es genau so, als meine Kinder klein waren und ich als Muter und Hausfrau versuchte den herausfordernden und gleichzeitig eintönigen Alltag zu bewältigen.
Oft sind wir so sehr damit beschäftigt, die Bedürfnisse unserer Mitmenschen herauszufinden, zu erahnen und zu erfüllen, dass unsere eigenen dabei total auf der Strecke bleiben. Gerade wir Mütter sind ja so gut darin, für andere Menschen zu sorgen. Die Kinder stehen im Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit, und uns selber stellen wir ganz weit hinten an.
Viele Mütter sind auch berufstätig, und die Väter sowieso. Bekanntlicherweise liegt der ganze Mental-Load fast immer bei den Frauen. So steigt die Organisation des Alltags ins Unermessliche.
24/7- abrufbar sein, Kinder hier, Haushalt dort, aufräumen, abräumen, planen, vorbereiten, umherrennen kann ganz schön an die Substanz gehen. Eine dauernde Unzufriedenheit macht sich breit. Wir fühlen uns nicht gesehen von den andern, unserem Partner, unserer Freundin, unserer Mitarbeiterin. Wir haben den Eindruck, wir seien ihnen egal und es interessiere sie nicht, wie wir fühlen und was wir brauchen. Nur- wenn wir unsere eigenen Bedürfnisse nicht wahrnehmen und kennen, wie sollen es andere für uns tun?
Eine grosse Fehlannahme ist, unsere Mitmenschen müssten uns unsere Wünsche an den Augen ablesen können. Doch wer ist schon Hellseher mit einer 100% Trefferquote? Ist es nicht etwas vermesssen, dem anderen aufzubürden, unsere Gedanken lesen zu können? Und nur, weil du dich selber so sehr an den Bedürfnissen der anderen ausrichtest, muss das umgekehrt nicht gleich sein.
Einmal mehr: Beginnen wir am besten bei uns selbst.
Ich bin doch kein Ego!!!
Kennst du sie denn noch, deine Bedürfnisse? Erlaubst du dir überhaupt, darüber nachzudenken?
Die eigenen Bedürfnisse wahrnehmen und erfüllen riecht für viele von uns verdächtig nach Egoismus. Und wer möchte schon als Egoistin gelten?
Doch stellen wir uns folgendes Szenario vor: Wir sitzen im Flugzeug, der Druck fällt und die Sauerstoffmasken fallen runter. Welche Maske muss man zuerst aufsetzen? Genau, die eigene.
Nur wenn ich selber mit ausreichend Sauerstoff versorgt bin, reicht meine Kraft die Maske jemand anderem aufzusetzen. Ist das egoistisch? Kaum. Genau so ist es auch in unserem Leben: Nur wenn ich im Alltag gut für mich sorge, meine Bedürfnisse wahrnehme und manche davon ganz bewusst erfülle kann ich langfristig auch für andere gesund da sein.
Ein weiterer Knoten im Zugang zu unseren Bedürfnissen liegt tatsächlich weit zurück in unserer frühen Kindheit. Je öfter unsere engsten Bezugspersonen entgegen unseren Bedürfnisse gehandelt haben, desto weniger können wir sie wahrnehmen und als wichtig einstufen.
Wir haben es schlicht nie gelernt, weil unseren eigenen Bedürfnisse bereits damals kein Stellenwert eingeräumt wurde. Stillen nach Uhrzeit und nicht nach Bedarf, auferlegte Schlaf- und Wachzeiten, ein Verlangen nach ständiger Nähe, das dem Baby nicht immer entspricht oder aber zu wenig Nähe – als Baby waren wir unseren Betreuungspersonen vollkommen ausgeliefert und konnten uns nur durch Schreien bemerkbar machen.
Wurden wir verstanden, machten wir die Erfahrung, dass unsere Bedürfnisse wert sind erfüllt zu werden. Wenn ich also ausreichend Sicherheit, Beziehung und Liebe erfahren durfte, weiss ich auch als Erwachsene: Ich bin es wert, wahrgenommen zu werden. Ich weiss auch, wonach ich im Leben Ausschau halten möchte und vermeide Menschen und Situationen, welche meinen gesunden Bedürfnissen nicht entsprechen.
Wurden wir nicht verstanden, erfuhren wir, dass eigene Bedürfnisse weniger zählen als diejenigen der anderen. Somit entsteht das stete Gefühl des Mangels, dass „etwas fehlt“. Nur weiss ich nicht, was es ist. Das innere Wissen um die eigenen Bedürfnisse durfte nie ausgebildet werden. Ich bin ratlos und passiv.
Wie kann ich meine eigenen Bedürfnisse wahrnehmen?
Um gesund und erfüllt zu leben ist es also wichtig, einen guten Zugang zu unseren Bedürfnissen zu haben. Sie wollen gesehen und wahrgenommen werden. Dass sie allesamt erfüllt werden können, ist nicht immer möglich und auch nicht schlimm. Sie wollen jedoch einen Platz einnehmen in deinem Leben.
Nun können wir unsere Kindheit ebenso wenig löschen wie alle weiteren Erfahrungen, welche wir im Leben bereits gemacht haben. Doch wir können unsere eigenen Bedürfnisse kennenlernen, uns die Erlaubnis geben sie wahrzunehmen und auszudrücken und sie ernst nehmen.
Billie lernte im Coaching mit NeuroYoga-Übungen, wie es sich anfühlt, die eigenen Bedürfnisse körperlich wahrzunehmen und zu fühlen. Sie öffnete sich für sie und gab sich die Erlaubnis dafür.
Mit Hilfe der Bedürfniskarten aus der Gewaltfreien Kommunikation übten wir ihre Bedürfnisse zu benennen. Sie fand heraus, welche davon lange verschüttet gewesen waren und welche bereits mehr Platz in ihrem Leben haben, als es ihr bewusst gewesen war. Das begann sie zu würdigen.
Zusammen entwickelten wir Ideen, wie sie manchen Themen mehr Raum geben kann und welche Bedürfnisse sie ganz realistisch mehr berücksichtigen kann. Dabei kam ihr Bedürfnis nach Freiheit auf einen der vorderen Ränge.
Zunächst raubte ihr darauf die plötzlich aufgetauchte Möglichkeit einer Trennung von ihrem Partner den Schlaf. Dann begann sie mit machbaren Tippelschrittchen täglich erstmal ein wenig mehr Freiheit in ihren Alltag zu lassen: Einkaufen in einem anderen Viertel, laut Musik hören und dazu tanzen mit ihren Kindern, eine neue Frisur, einen Babysitter suchen und ein altes Hobby mit ihrem Mann wieder aufnehmen.
Ihren „praktischen Teilzeit-Job“ schätzte sie nun wieder, weil er ihr finanzielle Freiheit ohne grossen Energieaufwand ermöglichte. Eine Trennung wurde unnötig, denn Billie fand immer mehr Freiheit in sich selber.
Unsere letzte Coaching-Sitzung verliess sie hoch aufgerichtet und mit einem Strahlen im Gesicht. Sie hatte durch neue Erfahrungen und Perspektivenwechsel das Ruder nicht einmal herumreissen müssen. Wir hatten ihre Komfortzone passend zu ihr und ihrem Leben erweitert und wieder Balance in ihr Leben gebracht.
Wie geht es dir selber mit DEINEN Bedürfnissen? Kennst du sie? Wieviel Raum gibst du ihnen?
Wenn du auch gerne Inputs von mir möchtest, um mehr Leichtigkeit und Zufriedenheit in deinen Alltag mitzunehmen, schau dich doch mal um bei meinen Angeboten. Zu meinem Life Coaching treffen wir uns ortsunabhängig online oder in Basel in der Animo Praxis.
Jana Landolt – Animo Coaching
ADHS- & Life Coach
Byfangweg 36, 4051 Basel